Der zweite Tag begann für mich früh, gegen 7:30 Uhr in Niederolbersdorf. Schon die ersten Meter forderten mich heraus: Zwei Kilometer bergauf direkt nach dem Start. Doch diese Mühe lohnte sich sofort, denn von oben eröffnete sich mir ein Anblick, der den Atem nahm. Die Sonne stand noch tief, Nebelschwaden krochen wie feine Schleier durch die Täler und zwischen den Baumstämmen hindurch. Es war diese besondere Stunde, in der kaum jemand unterwegs ist und die Natur fast so wirkt, als gehöre sie einem allein.
Ein Stück weiter, in Euba, stieß ich auf das kleine Poetenhäusl. Schon von Weitem wirkte es einladend: eine Bank, umgeben von Zitaten, kleinen Sprüchen und liebevoll angebrachten Kleinigkeiten, die einem ein Schmunzeln entlocken. Ich konnte nicht anders, als eine Pause einzulegen, mich in die Sonne zu setzen und einfach zehn Minuten lang den Augenblick auszukosten. Genau hier entstand auch das heutige Beitragsbild – ein Bild von Ruhe und Wärme, mitten im Aufbruch des Tages.
Mit diesem Gefühl im Rücken rollte ich weiter, als mir eine Frau auffiel, die unter einem Kastanienbaum nach Früchten suchte. Ihr Beutel blieb fast leer, und sie wirkte enttäuscht. Ein paar Kilometer später fand ich mich dagegen in einem Kastanienhain wieder, in dem ich fast Slalom fahren musste, so viele lagen dort am Boden. Dieser Kontrast ließ mich nachdenken: Oft suchen wir etwas genau da, wo es kaum zu finden ist. Wir verharren, anstatt uns zu bewegen – und wundern uns, dass es nicht besser wird. Doch wenn man den Blick weitet, vielleicht sogar den Ort wechselt, entdeckt man plötzlich, dass das Gesuchte in Hülle und Fülle da ist. Für mich war dieser Kastanienhain heute ein Sinnbild dafür, dass sich das Leben manchmal erst dann öffnet, wenn man es wagt, den gewohnten Rahmen zu verlassen.
Kurz darauf, noch in einiger Entfernung, ragte die bunte Esse in Chemnitz in den Himmel. Ein farbig bemalter Schornstein, weithin sichtbar – ein Kunstwerk mitten im Alltag. Er wirkte fast wie ein Fingerzeig: Schau hin, auch dort, wo du es nicht erwartest, kann Farbe sein.
Die Strecke führte mich weiter zur Wassersportanlage Rossau. Anders als im Sommer lag das Gelände heute still und verlassen, herbstlich ruhig, fast melancholisch. Es war, als würde sich alles zurückziehen und die Bühne wieder der Natur überlassen.
Ein besonders schöner Moment entstand an einer Kreuzung, als ich mit einem Mann ins Gespräch kam, der mit seinem Enkel unterwegs war. Ich erzählte von meiner Tour und meinem Anliegen, und ohne zu zögern holte er fünf Euro aus der Tasche. „Das ist eine gute Sache“, meinte er, bat noch um ein Foto, um es später seinen Freunden zu zeigen. Solche Begegnungen, so klein sie auch wirken, geben mir das Gefühl, nicht nur allein zu rollen, sondern dass andere Menschen den Gedanken mittragen.
Während des Vormittags fiel mir auf, wie sehr sich das Bild unserer Landstraßen verändert hat. Wo früher Gasthöfe an Kreuzungen standen, in denen man unkompliziert einkehren konnte, sind heute die Türen geschlossen. Höchstens bieten einige noch Zimmer an, aber als Gasthaus sind sie verschwunden. So bin ich fast den gesamten Vormittag durchgefahren – mit kleinen Pausen zum Verschnaufen, aber ohne richtige Mahlzeit. Zum Glück hatte ich noch ein Brötchen vom Vortag dabei, zwar schon etwas trocken, aber zusammen mit Wasser und einer Bank im Sonnenschein war es ein kleines Festmahl. Auch das gehört wohl zum Reisen: Improvisieren, genießen, was da ist, und feststellen, dass es gar nicht viel braucht.
So kam es, dass ich schon kurz nach der Mittagszeit in Döbeln ankam. Mein Quartier für die Nacht: ein kleines Hostel in einem Hinterhof, das von einem sympathischen Ehepaar geführt wird. 300 Meter vom Zentrum entfernt, und doch fühlt es sich an wie eine kleine Oase, individuell und mit viel Witz gestaltet. Ein perfekter Ort, um den Tag zu beschließen.
Das Wetter hat heute alles richtig gemacht: blauer Himmel, Sonnenschein, ein paar Schäfchenwolken und in den Tälern noch der Nebel vom Morgen. Ich werde den Abend in der Altstadt ausklingen lassen, ein wenig die Atmosphäre aufsaugen und dann früh schlafen. Morgen wartet eine längere Etappe: rund 60 Kilometer nach Bad Liebenwerda, zum Glück mit einer eher angenehmen Topographie.
Was ich mir aus diesem Tag mitgenommen habe
Dieser Tag hat mir gezeigt, dass wir manchmal schlicht am falschen Ort suchen. Die Kastanien sind nur ein Beispiel: Man kann lange unter einem fast leeren Baum stehen – oder weitergehen und plötzlich stolpert man über Fülle. Viele Menschen suchen immer wieder am selben Platz nach mehr Glück, Liebe, Freiheit oder Sinn. Doch vielleicht braucht es manchmal nur den Mut, den Ort zu wechseln oder den Blick zu öffnen.
Auch habe ich gespürt, wie stark sich unsere Landschaft verändert – und mit ihr die Kultur des Unterwegsseins. Alte Gasthöfe verschwinden, vertraute Anlaufpunkte gehen verloren. Aber das bedeutet nicht, dass Pausen unmöglich sind. Manchmal reicht ein trockenes Brötchen, eine Flasche Wasser und eine Bank im Sonnenschein, um sich reich zu fühlen.
Und wieder waren es die kleinen Begegnungen, die meinen Tag geprägt haben: ein Gespräch, eine spontane Spende, ein freundliches Lächeln. Es sind diese Augenblicke, die den Weg leicht machen, auch wenn die Strecke lang ist.
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Bis morgen
Dirk

