Tag 9: Das Wasser ruft – und ich fahr und fahr

9. Okt. 2025 | 0 Kommentare

Heute bin ich mal wieder etwas früher los – so gegen acht. Die Luft war frisch, und irgendwie lag schon so ein Hauch von Meer in der Luft. Ich habe keine Ahnung, ob ich das wirklich gerochen hab oder ob es einfach nur in meinem Kopf war, aber das Gefühl war da: Jetzt geht’s langsam in Richtung Ziel.

Die ersten Kilometer waren ehrlich gesagt kein Spaß. Ich musste an einer Bundesstraße entlang, und wenn so ein LKW mit 100 km/h an dir vorbeizieht, dann ist das eher ein Überlebenstraining als eine gemütliche Tour. Ich war froh, als ich endlich abbiegen konnte – weg vom Krach, rein ins Grüne. Und zack – plötzlich war da wieder dieses Gefühl, warum ich das Ganze eigentlich mache. Felder, Alleen, kleine Dörfer, und diese Weite, die man einfach nicht erklären kann. Ich hab geatmet, geschaut, getreten, und das war’s.

Je weiter ich kam, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass sich die Landschaft verändert. Alles wurde heller, offener, lebendiger. Irgendwie merkt man, dass man Richtung Küste kommt. Oberhalb von Berlin war es stellenweise wie ausgestorben – da hat es sich echt so angefühlt, als ob das Leben dort Pause macht. Aber hier oben? Hier fängt alles wieder an zu atmen.

Und dann waren da wieder diese kleinen Dinge am Wegesrand, die den Tag besonders machen.

Da stand mitten im Nichts eine alte Bank – mit Blick über Felder bis zum Horizont. Natürlich hab ich mich hingesetzt und einfach geguckt. Ein paar Kilometer weiter stand ein Tiny Haus auf einem Anhänger – komplett mit Holzschindeln verkleidet. Sah so gemütlich aus, dass man direkt einziehen wollte.

Dann kam eine „Mitfahrbank“. Ich kenne das Konzept nicht genau, aber man setzt sich wahrscheinlich einfach hin, und wenn jemand vorbeikommt, der dich mitnehmen mag, dann hält er an. Ich musste so lachen. So simpel, so schön. Und dann – kein Witz – kam ich durch die Onkel-Bräsig-Straße. Da musste ich laut lachen. Dass es die Redewendung „du bist aber Bräsig“ wirklich wegen einer Romanfigur gibt, wusste ich bis heute auch nicht.

Die Straßen waren heute lang. Und mit lang meine ich: richtig lang. Teilweise fuhr ich acht, neun, elf Kilometer ohne eine einzige Kurve. Und wenn du da so geradeaus rollst, fängt der Kopf an zu wandern. Ich dachte über alles Mögliche nach – über die letzten Tage, über das Ziel, über das, was danach kommt.

Mittags hab ich in Jarmen Pause gemacht. Ich wollte eigentlich nur kurz was essen und hab auf Google „Essen“ eingegeben. Da tauchte Haacki’s Feldküche auf. Ich hatte spontan Lust auf Kesselgulasch und dachte mir: klingt bodenständig, da fahr ich hin.

Also bin ich da rein – eine kleine Garage, drei Tische, es roch nach Hausmannskost. Kassler mit Sauerkraut und Kartoffeln – das einzige Gericht des Tages. Genau mein Ding. Ich bestell, setz mich, und der Wirt fragt:

„Wat’n das für’n komisches Fahrrad ohne Sitz?“

Ich sag: „Kein Fahrrad – ein Roller.“

Er lacht: „Na, da hätt ick aber wat Besseres vor!“

Wir lachen beide.

Am Nebentisch saß ein älterer Typ. So einer, der auf den ersten Blick ein bisschen eigen wirkt, aber irgendwie sympathisch. Er erzählte mir über dies und das, über Zahlen, Kreise, das Leben – und dann sagt er einfach so, ganz ruhig:

„Nichts ändert sich, außer man ändert sich.“

Bumm. Da war er. Dieser Satz.

Ich weiß nicht, warum der mich so getroffen hat, aber er war einfach… wahr. Ich saß da und dachte: Ja, genau das ist es. Ich bin doch genau deswegen unterwegs. Nicht, um mich zu verändern, sondern weil ich’s schon getan hab – einfach, indem ich losgefahren bin.

Nach dem Essen ging’s weiter, die Sonne kam raus, ich zog meine schwarze Windjacke aus und fuhr im leuchtgelben Fleece weiter. Zum Glück, denn die nächsten zwölf Kilometer führten über eine stark befahrene Bundesstraße, und der Wind kam direkt von schräg vorn. Aber egal – ich war sichtbar, ich war da, und ich fuhr.

Am frühen Nachmittag kam ich nach Greifswald. 58,6 Kilometer standen auf dem Tacho. Ich fand ein Café auf dem Marktplatz, bestellte Cappuccino und Apfelkuchen und ließ mich in die Sonne fallen. Vor mir ein Wegweiser: Santiago de Compostela – 3400 km. Ich musste lachen. Vielleicht ja irgendwann, wer weiß.

Eigentlich hätte hier Schluss sein können. Es war perfekter Tag, ein schönes Ziel. Meine Beine taten weh, aber in mir entstand so ein Gedanke. Wenn alles passt, warum dann aufhören. Wenn alles passt, dann genieße es doch. Wenn alles passt, wirf alle Pläne über Bord. Und ich beschloss weiter zu fahren. Nach Stralsund.

Also fuhr ich weiter.

Die letzten Kilometer waren die Hölle. 21 Kilometer Kopfsteinpflaster, davon 18,3 am Stück. Ich dachte, mir fällt der Roller auseinander. Der klappert, vibriert, springt, und ich halte den Lenker so fest, dass mir die Hände wehtun. Jeder Meter war Arbeit. Aber ich blieb im Rhythmus. Acht Tritte links, acht rechts, wieder acht. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich das gemacht hab. Irgendwann hab ich nicht mehr gezählt. Es war einfach nur noch Bewegung.

Die Läufer nennen das Runner’s High. Ich hatte heute mein Roller-High. Kein Denken mehr, kein Zweifeln – nur Atmen, Fahren, Weitermachen.

Kurz vor Stralsund hab ich sie gehört – die letzte Grille des Sommers. Ihr Zirpen klang wie ein letzter schöner Gruß. Er passte zum blauen Himmel und den Schäfchenwolken.

Jetzt sitze ich hier, im Hotel Alter Hafenspeicher, mit Blick auf die Rügenbrücke. Fast 100 Kilometer. Mein längster Tag bisher. Ich bin komplett fertig – aber glücklich.

Morgen will ich ans Ziel. Noch 62 Kilometer. Wind von vorn, wieder Kopfsteinpflaster, egal. Ich will das Ding zu Ende bringen.

Was ich mir aus diesem Tag mitgenommen habe

Manchmal reicht ein Satz, um dich wieder auf Spur zu bringen. „Nichts ändert sich, außer man ändert sich.“ – der kam heute genau im richtigen Moment. Veränderung ist kein großer Knall, sondern einfach die Entscheidung, nicht stehen zu bleiben.

Ich hab gelernt, dass Stärke im Kleinen steckt. In jedem einzelnen Tritt, in jeder Bewegung. Acht links, acht rechts. Immer wieder. Nicht, weil’s leicht ist – sondern weil viele kleine Taten mich an jedes Ziel bringen können

Und ich hab gemerkt, dass das Leben überall Geschichten erzählt. Man muss sie nur sehen wollen – auf einer Bank, in einer Küche, auf einer Straße, die nach einem Romanhelden benannt ist. Vielleicht ist das das Schönste an dieser Reise: dass man unterwegs lernt, wieder hinzuschauen.

Wenn ich morgen schon am Ziel bin, fehlen auch noch mal zwei Tage für die Unentschieden zum Thema „Spenden“. Daher hier noch mal der Link zum Linktree mit der Möglichkeit den Lebenshaus e.V. zu unterstützen.

👉 anbei noch einmal der Link zum Linktree mit WhatsApp Kanal und Spendenmöglichkeit: Linktree

Bis morgen

Dirk

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